Historia
Texto original en alemán
2021
barrikade.info
Dieser Text versucht die Geschehnisse rund um den Repressionsfall in Zürich aufzuarbeiten, bei dem ein ehemaliger anarchistischer Gefährte gegenüber der Staatsanwaltschaft den Verdacht auf andere Leute in seinem Umfeld gelenkt hat, um sich selbst zu entlasten. Es geht um Repression, Verrat und andere Abgründe.
Worum geht es?
Im Januar 2019 wurde in Zürich ein ehemaliger Gefährte verhaftet. Ihm wurden Brandanschläge auf Fahrzeuge der Armee im Jahr 2015 in Hinwil und auf die Notfunkstation Waidberg der Stadtpolizei Zürich im Jahr 2016 vorgeworfen[1]. Vor seiner Festnahme wurde der ehemalige Gefährte monatelang überwacht.
Im Knast reichte der Gefangene ohne Rücksprache mit seinem Unterstützer*innenkreis bei der Schlusseinvernahme, also bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren, eine schriftliche Stellungnahme bei der Staatsanwaltschaft ein. Darin bestritt er etwas mit den ihm vorgeworfenen Brandstiftungen zu tun zu haben und lenkte dabei den Verdacht auf seine Freund*innen und Bekannte.
Daraufhin, im September 2019, gab die damalige Soligruppe, die sich um den Verhafteten gebildet hatte, in einem Schreiben ihre Entsolidarisierung bekannt. Erstens, weil in der Stellungnahme Aussagen gemacht wurden, die spezifisch gegen eine andere Person verwendet werden könnten (und sich der Gefangene dessen bewusst zu sein scheint). Zweitens, weil der Gefangene in der Stellungnahme den Verdacht explizit auf seinen Freundes- beziehungsweise Bekanntenkreis lenkte.
Nach einem knappen Jahr in U-Haft wurde der ehemalige Gefährte Mitte Dezember 2019 zu 42 Monaten Gefängnis verurteilt[2].
Was will dieser Text?
Dieser Text ist eine Ergänzung zum Schreiben „Zur Einlassung des Gefangenen von Zürich”[3], das die Ex-Soligruppe im September 2019 veröffentlicht hat. Die Überlegungen hier kommen allerdings nicht von der damaligen Soligruppe. Vielmehr sind sie in kollektiven Diskussionen eines erweiterten anarchistischen Zusammenhangs entstanden. In Diskussionen unter Menschen entstanden, die dem Gefangenen und der Soligruppe teils näher, teils weniger nahe standen und stehen, und die sich mit dem Vorgehen des Gefangenen auseinandersetzen und den Vorfall kollektiv aufarbeiten wollten.
Wir machen in diesem Text mehr Informationen zu dem Fall publik, als bisher öffentlich zugänglich war. Denn wir glauben, dies ist nötig und wichtig, damit sich auch andere mit den damit einhergehenden Fragen beschäftigen können. Sei es in diesem spezifischen Fall, oder um für die Zukunft daraus zu lernen. Dieser Text ist deshalb auch als Anregung zu verstehen, sich darüber hinaus mit den Themen Repression, Gefängnis und Verrat zu beschäftigen.
Wir werden darin Ausschnitte aus dem Statement wiedergeben, dass der Gefangene bei der Staatsanwaltschaft eingereicht hat. Es geht uns dabei aber nicht darum, darüber zu spekulieren, ob seine Aussagen wahr sind oder nicht. Das ist schlichtweg unwichtig. Es geht uns um den Fakt, dass er diese Aussagen so gemacht hat. Es geht uns darum, den Kontext dieser Aussagen möglichst deutlich zu machen: Dass sie gut überlegt waren, und gezielt andere Leute belasten, um den eigenen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Dass sie kein Halbsatz nach einem mehrstündigen Verhör waren — sondern ein geplantes, strategisches Vorgehen.
Was steht in dem Statement?
Zur Brandstiftung an Armeefahrzeugen auf einer militärische Einrichtung in Hinwil, behauptet der ehemalige Gefährte in seiner schriftlichen Stellungnahme, am Tag vor der Brandstiftung an dem besagten Ort gewesen zu sein, sich den Ort angeschaut und dabei den Zaun angefasst zu haben, um später „Plakate oder einen Schriftzug an diesen Fahrzeugen anbringen, um auch der Kritik an der Institution des Militärs Ausdruck zu geben.” Deshalb müsse wohl seine DNA an diesem Zaun sein.
Weiter schreibt er: „Ich weiss noch, dass ich mich noch am selben Abend wieder zurück in Zürich mit Freunden in einer Bar traf, ich glaube, das war in der Gotthard-Bar an der Langstrasse. Dabei waren Leute, die ich teils besser, teils weniger gut kannte. Auch in dieser Runde kam das Gespräch auf die stattfindende Armeeübung […]. Ich weiss noch dass ich an diesem Abend mit einer Person sprach, die sagte, dass sie es angebracht fände, in diesem Kontext etwas Konkreteres zu machen. Ich erwähnte deshalb, dass ich an diesem Abend in Hinwil war und mir gedacht habe, man könnte dort vielleicht an den abgestellten Armeefahrzeugen Plakate oder Schriftzüge anbringen. Die Person kannte der Ort offenbar und ich erklärte an welcher Stelle ich mir den Zaun angeschaut habe. […] Die andere Person hatte sich dafür interessiert, aber wir redeten nur darüber. Schliesslich ging ich später nach Hause, ohne dass wir etwas konkreteres abgemacht oder geplant hätten. Als ich einige Tage darauf in der Zeitung gelesen habe, dass auf dieser Logistikbasis offenbar Armeefahrzeuge gebrannt haben, war ich sehr überrascht. Ich habe mich natürlich gefragt, ob das etwas mit dem Gespräch zu tun hatte, das ich an jenem Abend führte. Aber von Brandstiftung war an jenem Abend sicher niemals die Rede.”
Zur zweiten, ihm vorgeworfenen Brandstiftung an einem Polizeifunkmasten in Zürich hat der Gefangene eine noch detailliertere Erzählung abgegeben, in der er ebenfalls wieder behauptet, weder an Beschluss noch an der Ausführung dieser Brandstiftung beteiligt gewesen zu sein — aber eben wohl andere Leute, die er kenne und mit denen er Kontakt gehabt hätte. Er führt aus: „Ich möchte an dieser Stelle auch erklären, dass ich meine Aussage bisher zurückgehalten habe, weil offensichtlich sein wird, dass ich mit Personen Kontakt hatte, die möglicherweise an der Ausführung dieser Brandstiftung beteiligt waren. Da ich unter keine Umständen bereit bin, Aussagen bezüglich anderen Personen zu machen, müsste ich befürchten, dass sie vielleicht versuchen würden, mit Massnahmen wie Isolationshaft Druck auf mich auszuüben. Da ich angesichts der Schwere der Anklage sowieso mit einer längeren Untersuchungshaft rechnete, dachte ich mir, dass es besser sein wird, vorerst die Aussage zu verweigern und auf spätere Einvernahmen zu warten.”
Es folgen dann lange Ausführungen zu „jenem Abend”. In seinen Ausführungen werden zwei Personen erwähnt, die er in der Nähe dieses Funkturms angetroffen haben will. „An einem gewissen Punkt, ich glaube, es hatte schon gedämmert, also vielleicht 21-22 Uhr, sah ich zwei Personen, die ich kannte, mit Fahrrädern und Rucksäcken den kleinen Weg zum Aussichtspunkt hochkommen. Ich rief ihnen zu, sie kamen zu mir und wir redeten noch etwas miteinander. […] Ich fragte, was sie vorhaben, und sie sagten etwas von einem Fest im Wald. Als sie sich nach etwa einer halben Stunde wieder verabschiedeten, fragte ich, ob ich mit ihnen mitkommen kann, da ich jetzt ja nichts mehr vorhabe heute Abend. Sie antworteten etwas ausweichend und meinten, dass sie eben noch etwas anderes vorhaben. Ich fragte nicht weiter und wir verabschiedeten uns. Nach ein paar Minuten kamen sie wieder zurück und fragten mich ob ich Lust hätte, bei etwas zu helfen. Ich bejahte grundsätzlich und sie erklärten, dass sie eine Leiter durch den Wald tragen müssen, die ziemlich schwer sei, und zu dritt würde es sicher einfacher sein als zu zweit. […] Als ich fragte, wofür sie denn diese Leiter brauchen, meinten sie, eben auch wegen diesem Fest. […] Weil die eine Person einen grossen Rucksack und eine Tragtasche hatte, habe ich ihr fast den ganzen Weg das Fahrrad abgenommen und bin im Schritttempo nebenher gefahren. Dabei muss es sich um das gefundene Mountainbike gehandelt haben.”
Die sehr ausführliche Geschichte geht dann weiter: „Ich sah dann, dass in der einen Tragtasche, die am Boden stand, zwei Seitenschneider lagen. Ich nahm sie heraus und fragte, was sie denn damit vorhaben. Als sie etwas ausweichend meinten, nichts und ich solle sie wieder weglegen, war mir klar, dass sie irgendetwas vorhatten, es aber mir nicht sagen wollten. Ich hakte nach und sie sagten schliesslich, dass sie sich diesen Funkturm mal etwas genauer anschauen wollten, und dass sie eben dafür auch die Leiter brauchen, um über die Umzäunung zu klettern. Die Seitenschneider haben sie einfach mal mitgenommen. […] Dass es nicht legal sein wird, dort hinein zu klettern, war mir natürlich klar, und ich sagte dann auch, dass ich nicht wirklich einverstanden bin, dass sie hier diese Leiter, auf der ja nun meine Fingerabdrücke sind, für etwas Illegales verwenden. Sie meinten daraufhin, dass sie die Leiter noch mit Shavel-Wasser abputzen würden und zeigten mir auch, dass sie sogar so Schutzanzüge dabei haben. […] Jedenfalls fand ich schliesslich, dass ich dann wenigstens beim Putzen dieser Leiter dabei sein will. Daraufhin zogen ich und eine andere Person uns je so ein Schutzanzug über, wovon sie offenbar mehrere dabei hatten. […] Ich erinnere mich, dass sich die andere Person einmal etwas mit einer Tragtasche entfernte. Ich kann mir nicht erklären, wie es dazu kommt, dass offenbar an Latexhandschuhen Mikro-Spuren von Benzin gefunden worden sein soll, da ich damals weder jemals Benzin sah, noch roch, noch jemand etwas solches erwähnte. Wenn ich es im Nachhinein betrachte, könnte es aber vielleicht sein, dass in diesem Moment die andere Person in dieser Tragtasche irgendetwas mit einer Flasche Benzin herum hantierte. […] Noch während wir zurückgingen, hörten wir aus dem Wald Musik laut werden, es klang nach einer grossen Musikanlage. Das musste offenbar das Fest sein, das sie erwähnten. Sie wollten gleich dort hinschauen und fragten mich ob ich auch mitkomme. Ich sagte aber, dass ich nach Hause gehe, und meinte noch als Witz sie sollen keinen Seich anstellen.”
Der Gefangene macht mit den darauf folgenden Zeilen seine Anschuldigungen noch deutlicher: „Ich habe dann einige Tage später natürlich auch davon gehört, dass diese Hausdurchsuchungen stattgefunden haben, bei denen offenbar eine Person gesucht wurde, die einer Brandstiftung auf dem Funkturm beim Waidberg verdächtigt wird. Ich war schockiert, als ich davon hörte. Einerseits deswegen, weil mir klar war, dass das wohl mit jenem Abend etwas zu tun haben muss, ich aber solches in keiner Weise erwartet hätte, aber vor allem deswegen, weil so prompt und so heftig darauf reagiert wurde. In St. Gallen wurde ja offenbar ein Haus mit gezogenen Waffen gestürmt. Ich machte mir Sorgen um die Person, die da gesucht wird, aber ich dachte auch daran, dass ich dort ebenfalls mit diesen Schutzanzügen mit herum hantierte, und dass ja vielleicht auch Dinge mit meinen Spuren zurückgeblieben sind, wenn dort offenbar irgendetwas falsch gelaufen sein muss.”
Der Gefangene hat somit einen Gefährten, der auf der Flucht ist[4], sowie eine weitere Person mit seinen sehr detaillierten Aussagen an diesen Ort platziert. Er hat zwar keine Personen direkt namentlich erwähnt, aber mit seinen Beschreibungen und Ausführungen den Verdacht auf spezifische Menschen gelenkt. Er, der gemäss seinen eigenen Aussagen erst behauptet, nicht bereit zu sein über andere Personen Auskunft zu geben, belastet dann doch sehr deutlich zwei Personen, die er scheinbar kennt. Zusätzlich verbindet er in dem Statement eine Hausdurchsuchung bei einer Person direkt mit diesem Fall.
Was ist nach dem Statement passiert?
Als die damalige Soli-Gruppe und andere Menschen von diesem schriftlichen Statement erfahren haben, kontaktierten sie den Gefangenen, fragten nach seiner Motivation und seinem Wohlergehen. Diese Nachfragen beantwortet er damit, dass er in guter Verfassung sei, sich dessen, was er gemacht hat, sicher und sein Statement ein strategisch kluger Schachzug gewesen sei. Er wurde aufgefordert seine Aussagen zurückzuziehen und darüber informiert, dass er unter den Umständen nicht mehr von der Soli-Gruppe unterstützt werden würde. Der Gefangene hat es zu diesem Zeitpunkt jedoch abgelehnt, das Statement zurück zu ziehen. Erst Monate später, kurz vor der Gerichtsverhandlung, hat er seine Aussagen doch noch widerrufen und als frei erfunden bezeichnet.
Doch der Schaden und der Vertrauensbruch war ohnehin schon angerichtet. Die Justizbehörden funktionieren schlichtweg nicht so, dass etwas Eingereichtes ohne Konsequenzen einfach wieder zurück gezogen werden kann. Die Staatsanwaltschaft versucht alles, was sie kann, gegen mutmasslich verdächtige Leute zu verwenden — wenn es vielleicht vor Gericht nicht als Beweis verwertbar ist, dann lässt es sich zumindest als Indiz anmerken. Wie bereits erwähnt: Wir wollen nicht darüber spekulieren, ob diese Aussagen wahr oder frei erfunden sind. Worum es uns geht, ist: der Gefangene hat versucht, sich selbst aus der Affäre zu ziehen, indem er die Aufmerksamkeit auf sein Umfeld, seine Freund*innen und Gefährt*innen gelenkt, sowie spezifische Person(en) angeschwärzt hat. Und dies war, gemäss seinen eigenen Angaben, eine strategische Entscheidung. Was sich auch nicht zuletzt darin zeigt, dass er, in seinem Statement, gewisse Sachen aus den Akten und Thesen der Staatsanwaltschaft übernommen hat — beispielsweise beim Versuch zu erklären, wieso mutmasslich DNA-Spuren von ihm an den Orten dieser Brandstiftungen gefunden wurden.
Wie hat der Gefangene reagiert?
Nachdem die Soli-Gruppe unter diesen Umständen nicht mehr bereit war, den Gefangenen weiterhin zu unterstützen und dies in einem knappen Schreiben öffentlich machte, schickte der ehemalige Gefährte etwa ein halbes Jahr später einen offenen Brief an verschiedene Orte und Menschen in dem er sich zum Statement, zur Gerichtsverhandlung und zur Reaktion der Ex-Soligruppe äusserte. Der Grundton des Briefes war vorwurfsvoll und anklagend und richtete sich vor allem an die ehemalige Soli-Gruppe. Er liefert weder Beweggründe oder konkrete Erklärungen, noch eine Entschuldigung. Die Grundaussage des Briefes ist vielmehr: Die Reaktionen der Gefährt*innen und die Entsolidarisierung sei viel schlimmer, als das was die Bullen und der Staat ihm angetan hätten — und schlimmer als sein eigener Fehler. Der Gefangene übernimmt darin keine Verantwortung für sein eigenes Handeln, sondern delegiert es vielmehr an eine vermeintlich höhere Macht, an „etwas Absurdes”, „wie eine orchestrierte Intrige des Schicksals”. Er schreibt, die Stellungnahme sei „bedeutungslos” gewesen, „ein Experiment, fast schon spielerisch”. Nun öffentlich zu machen, er habe „jemanden implizit belastet” und Aufmerksamkeit auf sein Umfeld gelenkt, sei eine grausame „Verleumdung”.
Was ist unsere Position?
Wir haben auch aufgrund des erwähnten Briefes uns entschieden, diesen Text und Auszüge aus dem Statement zu veröffentlichen. Denn solange es keine zugänglichen Informationen dazu gibt, auf welcher Grundlage die Ex-Soligruppe und andere Menschen ihre Entscheidungen getroffen haben, solange gibt es auch keine gemeinsame Basis, um über diesen Fall zu sprechen — und letztlich daraus zu lernen. Der Gefangene wird wahrscheinlich schon bald, nach Zweidrittel der abgesessenen Strafe, entlassen. Wir beschäftigen uns aktuell damit, wie wir nun weiter machen und wie wir damit umgehen sollen.
Bis heute hat sich der Gefangene nicht entschuldigt und bis heute ist er offenbar nicht bereit, Verantwortung für sein eigenes Handeln zu übernehmen, für das, was er mit seinem Statement losgetreten hat. Deswegen wollen wir nun darlegen, was sein Handeln für uns bedeutet: Es geht um Verrat. Nicht um Verrat im Sinne von „etwas ausplaudern”, wie gesagt, wir wollen nicht über die Aussagen spekulieren. Sondern im Sinne eines krassen Vertrauensbruchs — eines Verrats an Gefährt*innen und Ideen, am Vertrauen seines Umfeldes, seines Unterstützer*innenkreises.
Das „bedeutungslose, spielerische Experiment” hat Konsequenzen — für seine Gefährt*innen, für seine Freund*innen, sein Umfeld, für andere Menschen. Der Knast, während einer laufenden Strafuntersuchung, ist der falsche Ort für Experimente. Nur weil die Bullen dieses Statement bisher nicht als Anlass genommen haben, um öffentlich gegen weitere Menschen aus seinem Umfeld vorzugehen, heisst das nicht, dass sie es nicht (noch) tun könnten. Oder aber, dass es deshalb in Ordnung wäre, andere Menschen zu belasten und den Verdacht auf sie zu lenken. Zu anderen Zeiten, an anderen Orten haben solche „Experimente” böse Auswirkungen auf ein ganzes Umfeld. Inwiefern dies bei diesem „Experiment” der Fall sein wird — wir wissen es nicht.
Wir sind uns im Klaren darüber, dass Isolation, Druck, psychische und emotionale Schwierigkeiten und die Gewalt, die Bullen oder Knast an sich ausüben, Menschen das Leben im Gefängnis (und auch ausserhalb) unmöglich machen können. Auch dass Menschen diesen Druck nicht mehr aushalten, ihm nicht standhalten, kann vorkommen — auch wenn dies zu verhindern natürlich das Beste wäre. Es geht uns nicht darum, irgendwelche Mythen, Dogmen oder Vorstellungen von dem*der „reinen Revolutionär*in”, der*die nie zusammenbricht, zu verteidigen. Die Fragen, die Verrat, Repression, Knast umgeben, sind komplex und sollten im besten Fall diskutiert werden, bevor mensch sich mit der Situation konfrontiert sieht. Wie gesagt, im besten Fall.
Aussagen bei der Staatsanwaltschaft sind nur schon deswegen problematisch, weil sie juristisch keine gute Strategie sind. Die meisten Anwält*innen werden dazu raten, wenn überhaupt, dann erst vor Gericht Aussagen zu machen. Denn von der Staatsanwaltschaft wird alles, was gesagt wird, gegen eine*n selbst oder andere verwendet. Es geht ihr ja genau darum, möglichst viele Anhaltspunkte und Indizien zu sammeln, um Leute anzuklagen — sie entscheidet nicht über das Urteil. Aussageverweigerung ist nach wie vor die beste Selbstverteidigung, um sich und andere zu schützen. Dennoch mag es Situationen geben, in denen Menschen keine andere Möglichkeit sehen, als bestimmte Informationen preis zu geben. Doch selbst dies liesse sich tun, ohne sich dabei von Ideen, Aktionen oder Methoden zu distanzieren. Und vor allen Dingen: ohne dabei andere zu belasten.
Die Tatsache, dass sich der Gefangene in seinem Statement von den Anschlägen und den Methoden distanziert, hätte es bereits schwierig gemacht, weiterhin „revolutionäre” Solidarität mit ihm zu zeigen. Oder anders formuliert: Es wäre merkwürdig und politisch fragwürdig gewesen, sich in Zusammenhang mit seinem Fall positiv auf die Anschläge zu beziehen, wenn er selbst sich deutlich davon distanziert.
Doch das tatsächlich grosse Problem in diesem Fall ist der Fakt, dass der Gefangene andere Menschen, ohne deren Wissen und Einverständnis in sein Konstrukt hineinzieht, den Verdacht auf sie lenkt, um seinen eigenen Hals aus der Schlinge zu ziehen — und dabei die behaupteten Thesen der Staatsanwaltschaft unterstützt. Sein Statement war schriftlich, überlegt, vorbereitet. Es war keine Affekthandlung, aus der Verzweiflung des Moments oder weil er die Situation nicht mehr aushielt. Er hätte zudem (anders als viele andere Gefangene ohne Soligruppe) die Möglichkeiten und die Zeit gehabt seinem Unterstützer*innenkreis etwas mitzuteilen, sie zu informieren, um Hilfe bitten… Er hat sich aber dazu entschieden, ohne Rücksprache, im Alleingang und aus einem Gefühl der Überlegenheit ein Statement zu machen, das andere belastet.
Und sogar angenommen, ein*e Gefährt*in macht Aussagen, die andere belasten — etwa weil die Person zusammenbricht, dem Druck nicht mehr standhält, sich in einer schwierigen Lebenssituation befindet, die Aussagen unter Folter erpresst werden — wenn die Person dies offen und transparent kommuniziert, sich entschuldigt, versucht die Verantwortung für die Handlung und die Konsequenzen so gut wie möglich zu übernehmen, dann wäre die Situation eine andere. Auch dann wäre ein Grundvertrauen weg, aber es blieben andere Ebenen der Interaktion. Doch auch dies war, wie beschrieben, beim Gefangenen nicht der Fall — im Gegenteil.
Aus all diesen Gründen nennen wir sein Handeln Verrat. Denn Vertrauen ineinander, und das Vertrauen darin, dass unsere Gefährt*innen es nicht verraten werden, ist die Grundlage für unser gemeinsames Handeln, Leben und Kämpfen.
Entsolidarisierung — und jetzt?
Das Handeln des Gefangenen hat viele lange und schwierige Diskussionen verursacht. Die Entscheidung andere Gefährt*innen und Umfelder über das Statement zu informieren, wurde alles andere als leichtfertig getroffen — und schon gar nicht ist es den Menschen leicht gefallen. Es mag kritisiert werden, dass nicht genug Informationen öffentlich gemacht wurden, nicht schon früher detaillierter über den Fall geschrieben wurde. Diese Entscheidung brauchte Zeit. Aber vor anderen Gefährt*innen und Umfeldern die Tatsache, dass jemand Aussagen gemacht hat, die andere belasten sollen, ganz zu verschweigen, wäre verantwortungslos und fahrlässig gewesen.
Es ist nicht einfach, einem*r Gefährt*in gegenüber die Solidarität, die Freundschaft oder sonst welche Unterstützung zu entziehen. Es gab und gibt Diskussionen, Zweifel, Angst vor weiterer Repression. Das Statement wirft nicht nur Fragen auf, auf die wir wohl nie Antworten finden werden, es vergiftet auch Beziehungen und ruft Unsicherheiten im erweiterten Umfeld hervor. Es hinterlässt Unverständnis, Trauer und Wut. Bis heute wissen wir sehr vieles nicht. Letztlich ist nicht mal klar, wo dieser Verrat aufhört. War das alles? Hat er noch mehr gesagt?
Die Entscheidung die Solidarität abzubrechen, rührt nicht von Dogmatismus. Sie ist eine Reaktion auf den Vertrauensbruch, die Verletzungen, den Verrat an Ideen, Gefährt*innen und Freundschaften.
Schlussendlich zeigt dieser Fall leider auch, dass wohl niemand davor gefeit ist, sich selbst und andere zu verraten. Gerne würden wir uns sicher sein und uns selbst und einander gegenseitig versichern, dass wir niemals mit den Bullen, dem Staat kooperieren würden. Doch gerade dieser Fall belehrt uns eines Besseren — wissen können wir es letztlich nicht. Genau darum, finden wir es wichtig, sich mit den darüber hinausgehenden Fragen zu beschäftigen, sie sich selbst zu stellen, sie im politischen Umfeld zu diskutieren. Was können die Konsequenzen meines Handelns für mich und andere sein? Glaube ich selber an das, was ich sage und schreibe? Was bedeutet die Umsetzung meiner Ideen? Was habe ich für eine Position in einem solchen Fall?
Für uns, die Autor*innen dieses Textes, steht fest: Wir vertrauen dem Gefangenen nicht mehr. Wir wollen mit ihm in Zukunft weder unsere Kämpfe, Räume noch Umfelder teilen. Wir wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben. Und wir denken, dass andere wissen sollten, was die Gründe dafür sind.
Mehr Infos zu dem Fall: „Ein Gefährte des Fermento verhaftet”.
Hier der Prozessbericht: „Update zum Prozess von dem in Zürich am 29.Januar Verhafteten”.
Link zum Schreiben der Ex-Soligruppe: „Zur Einlassung des Gefangenen von Zürich”.
Am Tag nach dem Brandanschlag auf den Polizeifunkmasten in Zürich fanden in verschiedenen schweizer Städten mehrere Hausdurchsuchungen statt. Laut Durchsuchungsbefehlen wurde nach einer „dringend verdächtigten Person” gesucht, „deren persönlich zuordenbare Artefakte gefunden worden waren”. Die international gesuchte Person, ein anarchistischer Gefährte, wurde an den Orten nicht gefunden und ist seitdem von der Bildfläche verschwunden. Mehr Informationen dazu sind in der Broschüre „Funkstille” zu finden.